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Titel
SS und Secret Service. «Verschwörung des Schweigens»: Die Akte Karl Wolff


Autor(en)
von Lingen, Kerstin
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser

SS-Obergruppenführer Karl Wolff (1904–1984) war zweifellos eine der schillerndsten Figuren der mittleren Führungsebene des Dritten Reichs. So handelte der vormalige Chef des persönlichen Stabs Himmlers als Höchster SS- und Polizeiführer Italien die einzige Teilkapitulation zwischen den westlichen Alliierten und Hitlerdeutschland aus, was ihm dazu verhalf, einer Verurteilung als Kriegsverbrecher durch das Internationale Militärtribunal in Nürnberg zu entgehen, obwohl er in Form der Mitwirkung an Bahntransporten von Juden nach Treblinka nachweislich am Holocaust beteiligt war. Was Wolff schliesslich doch noch zum Verhängnis wurde, war, dass ihn seine Geltungssucht dazu verleitete, sich anlässlich des Eichmann-Prozesses in einer Illustrierten zu seiner Rolle als rechter Hand des Reichsführers SS zu äussern und so sich selbst schwer zu belasten. Wolff wurde vom Münchner Landesgericht unter Anklage gestellt und 1964 wegen Beihilfe zum Mord an 300 000 Juden zu 15 Jahren Haft verurteilt, kam dann aber aufgrund eines ärztlichen Attests 1969 frei. Danach betätigte er sich bis kurz vor seinem Tode als «Zeitzeuge» und konnte dabei das Vertrauen auch angesehener Medien wie z.B. des Westdeutschen Rundfunks gewinnen. Besonders enge Kontakte unterhielt er zu Stern-Reporter Gerd Heidemann, dem späteren «Entdecker» der gefälschten Hitler-Tagebücher, mit dem er Südamerika bereiste, um ihm bei seinen Recherchen nach dem Verbleib von Nazigrössen behilflich zu sein.

Kerstin von Lingens Studie über Karl Wolff stützt sich auf eine breite und solid fundierte Basis von Quellen aus Archiven Deutschlands, Grossbritanniens, Italiens, der Schweiz sowie der USA ab. Dazu zählen unter anderem die vor knapp zehn Jahren aufgefundenen Handakten William Donovans, des Gründers des Office of Strategic Services (OSS), des Vorläufers der späteren CIA. Inhaltlich lässt sich das Buch in die folgenden drei Themenfelder untergliedern:

Ein erster Problemkreis umfasst den Bereich der geopolitischen Rahmenbedingungen und ihrer Auswirkungen auf den nationalen Kontext. Kam es kurz vor Kriegsende entgegen dem 1943 in Casablanca beschlossenen Prinzip der bedingungslosen Kapitulation sowie unter Umgehung der Sowjetunion zu Verhandlungen zwischen OSS und SS (Operation Sunrise), so gingen diese Kontakte seitens der USA nicht von eigenmächtig handelnden Geheimdienstangehörigen aus, sondern von der US-Regierung selbst, die das Ziel verfolgte, die Kampfkraft der eigenen Truppen intakt zu behalten und den sowjetischen Machtbereich in Europa einzudämmen. Dabei wurden im alliierten Hauptquartier auch Planungen angestellt, die unter Zuhilfenahme deutscher Verbände eine Freikämpfung des unerwarte von Jugoslawien besetzten Triests in Erwägung zogen. Wirtschaftlich stand die Überlegung im Vordergrund, das ökonomische Potenzial Norditaliens vor Zerstörungen zu schonen. Involviert war auch die Schweiz: So erfolgte die Kontaktaufnahme zum OSS über den Schweizer Nachrichtenoffizier Max Waibel, der auf eigene Initiative aktiv zwischen den amerikanischen und den deutschen Stellen vermittelte. Daraus resultierten unter anderem Treffen Wolffs in Zürich und in Ascona mit OSS-Vertreter Allen W. Dulles und Mitarbeitern des britischen Geheimdienstes. Die neutralitätspolitisch nicht unproblematische Vorgehensweise blieb denn auch nicht ohne Folgen: Auch wenn sie dazu beitrug, den Krieg vorzeitig zu beenden, so belastete sie die Beziehungen zur UdSSR und setzte die Schweiz dem von linker Seite erhobenen Vorwurf aus, am ersten Akt des Kalten Krieges mitbeteiligt gewesen zu sein.

Wertvolle Erkenntnisse vermittelt von Lingens Studie auch für den Themenkomplex der sogenannten Kriegsverbrecherpolitik. Nebst der ausführlichen Darstellung der von prominenten OSS-Akteuren wie Allen W. Dulles bis zu Beginn der sechziger Jahre mit Erfolg praktizierten Strategie, die politisch brisante Operation Sunrise vor der Öffentlichkeit zu verschleiern und zu diesem Zweck Wolff vor einer Anklage zu schützen, sind vor allem auch die Ausführungen der Autorin zu Italien von Interesse. Wolff hatte in seiner Funktion als Höchster SS- und Polizeiführer die im Rahmen der Partisanenbekämpfung erlassenen blutigen Vergeltungsmassnahmen in seinem Befehlsbereich konsequent umgesetzt, wurde jedoch später nie gerichtlich dafür verfolgt. Legte sich das Land bei der Stellung von Auslieferungsgesuchen gegen Deutsche Zurückhaltung auf, so deshalb, weil man befürchtete, dass andere Staaten wie z.B. Jugoslawien versuchen könnten, ihrerseits italienische Tatverdächtige gerichtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Hinzu kam die «ständische Milde» (S. 134) der Militärrichter Grossbritanniens, die für die Aburteilung von Offizieren im Generalsrang zuständig waren und die im Prozess gegen den Oberbefehlshaber Südwest der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, offen mit dem Angeklagten sympathisierten, ohne den Opfern eine Stimme vor Gericht zu geben. Zudem hatte der Beitritt Italiens und Deutschlands zur NATO zur Folge, dass man der Rücksichtnahme auf die Interessen des Verbündeten und der gemeinsamen Verteidigung Westeuropas Priorität gegenüber der Sühne für Kriegsverbrechen einräumte.

Aufschlussreich sind schliesslich auch von Lingens Hinweise zum Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wolff lebte bis zu seinem Prozess unbehelligt in Starnberg, in dessen Telefonbuch er mit vollem Namen unter der Bezeichnung «General a.D.» angeführt war, und trotz seiner Verurteilung gelang es ihm später, sich das Image eines «sauberen» SS-Generals zuzulegen und sich als «Grandseigneur» (S. 214) der Zeitzeugenszene zu profilieren. So wurde er im Rahmen des Seligsprechungsverfahrens für Papst Pius XII., der ihn 1944 in Privataudienz empfangen hatte, vom Erzbischöflichen Ordinariat München zur Aussage als Zeuge eingeladen. In Bayern und während seiner Ferien im Südtirol trat Wolff wiederholt als Redner an lokalen Festanlässen auf. 1978 erhielt er die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde Eppan, wo er in der Gaststätte einzukehren pflegte, die dort sein ehemaliger Koch der SS betrieb.

Leicht getrübt wird der insgesamt sehr positive Eindruck, den Kerstin von
Lingens Studie hinterlässt, durch das der Schweiz gewidmete Kapitel, das vor allem
auch dem renommierten Schöningh-Verlag ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis
ausstellt. Patzer wie u.a. «Axel» anstatt Alex Capus oder «Staatsrat a.D. Franz
Balnkart» – gemeint ist alt Staatssekretär Franz Blankart – hätte ein professionell
betriebenes Lektorat, so würde man zumindest meinen, leicht verhindern können.
Schade ist auch, dass sich der Text damit begnügt, bloss summarisch und ohne
kritische Hinterfragung auf die wissenschaftlich nicht haltbare Kriegsverlängerungsthese
zu verweisen, zumal das Verhalten der Schweiz gerade im vorliegenden Fall als angeblich positiv zu würdigendes Gegenbeispiel ins Feld geführt worden ist. Generell hätte das Buch davon profitiert, wenn es vermehrt Bezüge zu übergeordneten Thematiken herstellte. Dazu zählt unter anderem die Frage, warum sich einer der ranghöchsten Vertreter der SS bei Kriegsende anders verhielt als das Gros der Wehrmachtskommandeure, die trotz der nicht mehr abwendbaren Niederlage den Kampf um des Kampfes willen bis zum bittern Ende fortsetzten. Interessant könnte es zudem auch sein, vertieft zu untersuchen, wie es einem der engsten Mitarbeiter Himmlers, der nachweislich selbst am Holocaust und an Kriegsverbrechen in Italien mitbeteiligt war, noch zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts möglich war, in breiten Kreisen der Gesellschaft glaubwürdig und salonfähig zu sein.

Zitierweise:
Benedikt Hauser: Rezension zu: Kerstin von Lingen: SS und Secret Service. «Verschwörung des Schweigens». Die Akte Karl Wolff. Paderborn u.a., Ferdinand Schöningh, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 3, 2011, S. 388-390

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 3, 2011, S. 388-390

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